Zeichnung und Realität

„Warum stimmt meine Zeichnung nicht mit der Realität überein?“

Du hast dir so viel Mühe gegeben und beim Zeichnen hat es sich auch irgendwie gut angefühlt, doch das Ergebnis überzeugt dich schließlich doch nicht, du bist enttäuscht und gibst vielleicht sogar ganz auf.

Die folgenden Zeilen sind ein Erklärungsversuch warum es oft nicht klappt etwas so zu Papier zu bringen wie es unser Auge sieht.


Wir haben grundsätzlich nur zwei Arten von Linien: die geraden und die freien bzw. gebogenen. Aus diesen entstehen alle Formen, wenn sie sich verbinden und überlagern entstehen Konturen und Flächen.

Gehen wir gedanklich rückwärts können wir jedes Motiv auf Flächen und Linien herunterbrechen. (Versuch an dieser Stelle mal z.B. eine Blüte nur aus Linien bestehend zu betrachten)


Ein anschaulicheres Beispiel hierfür bieten uns die Buchstaben:

Das B z.B. besteht aus zwei bogen und einer Linie, das R aus zwei Linie und einem Bogen.

In den ersten Schuljahren setzten wir diese Linien zusammen und merkten uns die Buchstaben anhand ihrer Kontur.

Später schrieben wir Worte aus den einzelnen Bausteinen und dann Sätze usw. Diese Muster sind tief in unserem Gehirn verankert. 

Wir lernten also die Buchstaben indem wir uns ihre Kontur merkten. Auf ganz ähnliche Art lernten wir als ganz kleines Kind die Dinge um uns herum kennen. Wir erinnern diese Konturen und wissen beim nächsten Begegnen: aha, das ist ein Baum!

Weil unser Gehirn das gespeicherte Muster (z.B. den Baum) abruft und uns beim Zeichnen sozusagen in die Quere legt, haben wir in diesem Moment also die Erinnerung des ehemals Gelernten präsent und gleichzeitig vor unseren Augen unser Objekt, den Baum, den wir zeichnen möchten.

Die individuellen Einzelheiten unseres Baumes gehen unserer Wahrnehmung verloren, da sich die Erinnerung stets in den Vordergrund drängt und nur die wesentlichen Informationen (eben die in der Kindheit verinnerlichte Kontur eines Baumes) bereithält.

Das ist wahrscheinlich gemeint wenn der Zeichenlehrer sagt „wir müssen Sehen lernen“ und von der Abschaltung der linken, rationalen Gehirnhälfte spricht und vom Aktivieren der rechten, kreativen Hälfte.

Ich bin jedoch der Meinung dass stets beide Hälften präsent sind, in unterschiedlichen Anteilen und der sogenannte Flow-Zustand oder das Vergessen von Raum und Zeit während des Malprozesses lediglich eine stark reduzierte Aktivität der linken Gehirnhälfte bedeutet.

Weshalb auch viele Mal- und Zeichenbegeisterte etwas Meditatives und Erholsames aus dieser Kreativität schöpfen.

Versucht doch mal blind zu zeichnen, das heißt ihr schaut nur auf das Foto und nicht aufs Papier. Versucht die Kontur so gut wie möglich zu erfassen, ohne hinzuschauen. Als zweite Übung zeichnet ihr die Konturen „sehend“. Ihr werdet merken, dass es beim zweiten Versuch schon viel leichter geht.

Fassen wir zusammen:
Den meisten gelernten Mustern im Gehirn fehlen also sozusagen die Details die das Objekt beim Zeichnen realistisch erscheinen lassen.

Mit Zeichenübungen speichern sich die Muster des Gezeichneten im Gehirn neu ab und überschreiben bildlich dargestellt die bisherigen Informationen. Auf die gleiche Art wie wir als Kind den Baum gelernt haben erweitern wir dieses Wissen nun mit den Details die wir registriert haben als wir den Baum zeichneten.

Die gute Nachricht ist wir können uns bewußt diesen Details zuwenden und sie wahrnehmen. Wir sprechen hier also eigentlich gar nicht über das „Sehen“ sondern vielmehr über das „Wahrnehmen“.

Wahrnehmung ist die Fähigkeit des Geistes, das zu interpretieren was wir sehen und entsprechend unserer Erfahrung einzuordnen. Wir sprechen beim Zeichnen also nicht vom „richtigen Sehen“ sondern besser von „detaillierter Wahrnehmung“.

Die Herausforderung liegt darin die gespeicherten Erinnerungen früherer Lernprozesse zu umgehen. Das heißt, dass diese früh gelernten Muster sich sofort aktivieren und präsent sind (z.B. wenn wir an einen Baum denken) und diesen vor unserem Auge haben und zeichnen möchten.

Bereits bestehende Muster lassen sich verändern wenn eine beeindruckende neue Erfahrung damit verbunden wird:
Bleiben wir bei dem Beispiel vom Baum. Wir haben die Aufgabe einen Baum zu zeichnen hervorragend gelöst, die Darstellung ist realistisch, Größe, Proportionen, Licht/Schatten, Details alles ist stimmig. Es ist eine tolle Zeichnung geworden und wir sind sehr zufrieden damit. Das Gehirn speichert nun nicht nur das Ergebnis und die damit verbundenen Emotionen ab, sondern auch den Prozess des Wahrnehmen während dem Zeichnen. Künftig werden wir wahrscheinlich einen Baum mit etwas anderen Augen betrachten. Wir werden mehr auf Details achten und das ist was gemeint ist mit „du musst sehen lernen wenn du zeichnen willst“. Es ist eigentlich der Prozess des Wahrnehmens. Und je öfter wir verschiedene Bäume zeichnen umso intensiver wird sich das alte Muster im Gehirn (das ist ein Baum) verändern. Darin liegt eben auch der Sinn von Zeichenübungen. Deshalb sind Skizzen und Übungen niemals Zeitverschwendung, denn auf der unbewußten Ebene im Gehirn geschieht hierbei sehr viel das uns im Zeichnen weiterbringt.

Dieses Foto ist auch zu Üben: zeichne erst einmal nur die Kontur die du wahrnimmst ohne Details wie Blüten, Blätter, Lichter und Schatten, einfach nur Linien, die die Form wiedergeben, denke an das Beispiel mit den Buchtstaben.

Habt Spass an den Übungen, bleibt gesund, und eine

entspannte Mal-Zeit für euch.

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